Doch geht Jesus seinen Weg aus einer Haltung heraus, die
zuinnerst von dem Wort geprägt sein wird, das er denen, die ihm folgen, im
Gebet mitgibt: „Dein Wille geschehe“. Er lebt diese Haltung bereits in der
Ahnung, dass ihm am Ende seines Lebens äußerlich alles genommen wird: seine
Freiheit, seine Ehre, der Kreis derer, die ihm gefolgt sind, ja sogar die
Glaubwürdigkeit seiner Botschaft, die im Kreis der Spötter keine Resonanz mehr
findet. Was aus seinem Wirken wird, ist nicht sein Produkt, ist nicht sein
Machwerk. Ob sein Wirken Früchte trägt, ist eine Frage jenseits der
menschlichen Logik. Jesus lebt aus der Hingabe und aus der inneren,
vertrauen-den Offenheit für das Wirken des Vaters. So führt ihn der Weg seines
öffentlichen Wirkens von jenen Tagen in der Wüste letztlich hin zu jener Nacht
im Garten Getsemani. Dort zeigt sich sehr eindrucksvoll dieses Ringen um den
Willen des Vaters.
Es gehört in jener Nacht zu den sehr harten, leidvollen
Erfahrungen Jesu, wenn er feststellen muss: Da habe ich diese
Jüngergemeinschaft zwei bis drei Jahre intensiv begleitet und geformt. Und
jetzt dieses Resultat: Einer verrät mich – und die anderen schlafen oder laufen
davon. Was er in diesen Jahren an Verkündigung, an Zeichenhandlung, an
Weggemeinschaft in diesen Kreis investiert hat, es scheint ohne größere Wirkung
geblieben zu sein.
Und wie zeigt sich unsere Getsemani-Situation heute? Keine
Frage – als Kirche sind wir gerade in unseren Tagen oft weit weg vom Anspruch
der Botschaft Jesu. Gerade deswegen ist unser ganzer Einsatz gefordert. Die
Gebetsbitte „Dein Wille geschehe“ ist eben keine Entschuldigung für fehlende
Einsatzbereitschaft. Und doch drängt sich mir die Frage auf: Kann es sein, dass
die gegenwärtige Situation auch das Potential hat, zu einer Zeit der
tiefgreifenden inneren Formung unserer Kirche zu werden? Kann es sein, dass die
aktuellen Grenzerfahrungen, inneren Widersprüche, kaum auflösbaren Spannungen
zu einem Anstoß für eine sehr grundlegende innere Formung werden müssen? Kann
es sein, dass bei allem, was derzeit auch zerbricht, es darum geht, tief in die
Haltung hineinzufinden, in der Jesus jene Nacht von Getsemani durchlebt und
durchlitten hat?
Ich glaube, es geht darum, dass wir uns formen lassen und
tiefer begreifen: Es sind in letzter Konsequenz nicht wir, die die „Kirche
machen“ – um dieses Verb zu verwenden, das sich in manchen Formulierungen
unserer Tage findet –, sondern es ist der Herr, der uns führt. Nicht wir kennen
das Ziel, sondern er. Und wir müssen damit rechnen, dass uns manches
Etappenziel ähnlich verstört zurücklässt, wie es damals bei den Jüngern in der
historischen Getsemani-Nacht der Fall war. Es ist möglich, dass der Herr uns in
eine Gestalt von Kirche hineinführt, die uns auf den ersten und auch auf den
zweiten Blick armselig vorkommen wird, eine Form, die jenseits dessen liegt,
was wir gerne hätten. Und doch ist ihr das Wesentliche mitgegeben in der Spur,
die sie vom Abendmahlsaal nach Ostern führen wird.
Wir werden viel loslassen müssen in der kommenden Zeit –
auch Vieles, was uns als Kirche noch vor wenigen Jahren als unaufgebbar schien.
Die finanziellen und personellen Engpässe zeigen uns das deutlich an.
Widerstehen wir dem Impuls, festhalten zu wollen, sondern lassen wir zu, dass
wir – im Bild gesprochen – hinausgeführt werden in die Wüste oder
hineingeschubst sind in den Garten Getsemani. Lassen wir das zu im Vertrauen,
dass wir ihn, Jesus, genau dort finden: in der Wüste wie im nächtlichen Garten.
Ich glaube, dass das ein wesentlicher Auftrag der Kirche
unserer Tage ist – Jesus zu finden in der eigenen Armseligkeit und Jesus zu
finden in der Armseligkeit Anderer. Das ist ein Vorgang, der zutiefst mit dem
Osterereignis zu tun hat, von dem her unsere Kirche auch heute ihre Erneuerung
erhält. Denn geeint und ausgerichtet auf ihre Sendung wurde die Kirche von
ihrem Ursprung her durch die Erfahrung von Ostern. Durch das Osterereignis
bekam das, was die Frauen und Männer zuvor in der Nach-folge Jesu erlebt
hatten, einen neuen Wert. Alles erscheint in einem ganz neuen Licht. Das
Osterereignis ist deshalb nicht einfach die Fortführung, Perfektionierung oder
Optimierung des bisher Erlebten. Es ist keine Version 2.0 oder ein Update des
Bisherigen. Ostern ist Geschenk und Gnade jenseits alles Machbaren, unverdient,
Handeln Gottes an uns jenseits all dessen, was wir selbst tun können. Es fügt
Bruchstückhaftes und Unvollendetes neu zusammen. So wird das, was die
Jüngerinnen und Jünger Jesu miteinander erlebt haben, zur überzeugenden
Botschaft für viele.
Mein Wunsch für unser Bistum ist, dass wir uns mit der
begonnenen Fastenzeit nicht nur auf das kommende Osterfest am 4. April ausrichten,
sondern auch auf das Osterereignis, aus dem sich unser Kirche-Sein als Kirche
im Bistum Fulda erneuert. Betrachten wir diese Ausrichtung nicht nur als eine
zeitliche Perspektive der kommenden 40 Tage, sondern als einen existenziellen
Vorgang, der das Potential hat, unser Selbstverständnis als Getaufte und als
Gemeinschaft der Getauften entscheidend zu verändern und zu prägen.
Wesentliche Impulse gingen in unserer Kirche oft von Frauen
und Männern aus, die aus diesem Osterereignis und dem österlichen Glauben
gelebt haben. Es sind Menschen, die sich mit ganzer Kraft hineingegeben haben
in die Erneuerung der Kirche und die zugleich Zeuginnen und Zeugen der eigenen
Armseligkeit wurden. So kommt mir in diesen Monaten immer wieder Bruder Charles
de Foucauld in den Sinn, jener Franzose, der erst nach langem Suchen zum
Glauben kam. Im Gebirge Algeriens lebte er als christlicher Einsiedler seinen
Glauben in Freundschaft mit den muslimischen Nachbarn. Vordergründig hatte er
keinen Erfolg. Auch wenn er sehr glaubwürdig lebte und die Sehnsucht nach
Weggefährten hatte, schloss sich ihm niemand an. Erst nach seinem Tod wurde
sein Wirken fruchtbar und inspirierend für unzählige Berufungswege bis heute.
Das Gebet, das Bruder Charles einst wichtig wurde, kann uns durch die kommenden
Fasten- und Wüstentage begleiten:
Mein Vater,
ich überlasse mich dir,
mach mit mir, was dir gefällt.
Was du auch mit mir tun magst, ich danke dir.
Zu allem bin ich bereit,
alles nehme ich an,
wenn nur dein Wille sich an mir erfüllt
und an allen deinen Geschöpfen,
so ersehne ich weiter nichts, mein Gott.
In deine Hände lege ich meine Seele;
ich gebe sie dir, mein Gott,
mit der ganzen Liebe meines Herzens,
weil ich dich liebe,
und weil diese Liebe mich treibt,
mich dir hinzugeben,
mich in deine Hände zu legen, ohne Maß,
mit einem grenzenlosen Vertrauen;
denn du bist mein Vater.
So segne und begleite Sie in diesen Tagen auf Ostern hin der
dreieine Gott, der + Vater, der + Sohn und der + Heilige Geist. Amen.
Fulda, am 10. Februar 2021,
am Gedenktag der Heiligen Scholastika
Dr. Michael Gerber
Bischof von Fulda