Liebe Schwestern und Brüder!
Mitte Januar haben wir den 1200. Weihetag der Michaelskirche
gefeiert. Damit ist die kleine Kirche unweit des Fuldaer Doms einer der
ältesten Kirchenbauten, den wir in Deutschland haben. Viele von Ihnen kennen
diese Kirche. Ihre besondere Atmosphäre spricht ganz unterschiedliche Menschen
an und führt viele ins Gebet.
Hier wie an unzähligen anderen Orten ist es derzeit
insbesondere das Gebet um den Frieden. Die vergangenen Tage haben uns auf
erschreckende Weise vor Augen geführt, dass wir aktuell eine Zeitenwende
erleben. Mit dem Krieg in der Ukraine und dem unsäglichen Leid vieler Menschen
dort erleben wir zugleich die existenzielle Bedrohung von Frieden und Freiheit
auf unserem Kontinent und darüber hinaus. Es braucht die Klugheit derer, die
politische Verantwortung tragen, und zugleich die Bereitschaft möglichst
vieler, um der Freiheit und des Friedens willen auch manche Einschränkung in
Kauf zu nehmen. Unsere Solidarität gilt all jenen, die sich in humanitären
Initiativen vor Ort und auch hierzulande engagieren. All das wird mit großer
Wahrscheinlichkeit die jetzt begonnene Fastenzeit entscheidend prägen.
Kommen wir zurück zur Michaelskirche: Mehr und mehr ist mir
dieser Kirchenbau zu einer Predigt geworden. Gerade auf dem Hintergrund der
aktuellen Situation unserer Kirche hat er mir manche Gedankenanstöße gegeben.
Einige dieser Impulse will ich mit Ihnen teilen.
Was wir heute auf dem Michaelsberg sehen, ist nicht mehr die
Kirche aus dem Jahr 822. In der Folgezeit wurde sie immer wieder zerstört,
aufgebaut, erneuert und erweitert. Zuletzt wurde sie bei einem Luftangriff 1944
schwer beschädigt. Der Bombentreffer
hätte nur zwei Meter weiter einschlagen müssen, dann wäre
die Michaelskirche vollständig vernichtet worden. Für mich ist der Blick auf
Epochen der Zerstörung ein sehr anschauliches Bild für die Situation unserer
Kirche heute. Dabei denke ich nicht zuerst an den Verlust von Ansehen,
Glaubwürdigkeit oder Einnahmen aus der Kirchensteuer. Sondern im Bild von der
sehr stark beschädigten Kirche spiegelt sich für mich vor allem das, was
derzeit in den Seelen vieler Menschen vor sich geht.
Es sind Menschen, die in unserer Kirche groß geworden sind.
Sie haben an verschiedenen Orten in unserer Kirche viel Kraft und Lebenszeit investiert. Sie haben Verantwortung übernommen, ehrenamtlich oder
hauptberuflich. Sie haben sich eingesetzt im Dienst am Nächsten, in Gremien und
Verbänden. Sie haben sich in Bereichen engagiert, die oft kaum jemand sieht und
die doch so notwendig sind. Auch jenseits der Kirchenmauern, im privaten Umfeld
und im Beruf, haben sie versucht, sich in ihrem Tun an den Werten des
Evangeliums auszurichten. Sie haben das aus voller Überzeugung getan, weil sie erfahren durften: Was wir tun,
ist eine konkrete Hilfe für andere Menschen. Immer wieder haben sie gehört:
Euer persönlicher Beitrag ist ein lebendiger Baustein in der einen, großen
Kirche Jesu Christi. Durch das, was sich an persönlichem Engagement und an
begleitendem Gebet ineinanderfügt, wird der Auftrag des Evangeliums in der Welt von heute konkret.
Durch die Ereignisse der vergangenen Jahre, Monate und
Wochen ist dies für viele Christen in unserer Kirche radikal infrage gestellt.
Sie erfahren zwar immer noch, dass das, was sie aus dem Geist des Evangeliums
heraus tun, für Menschen eine konkrete Hilfe ist. Doch radikal infrage gestellt
ist der Kontext, ist die Kirche. Was wir seit Jahren erleben und was sich in den vergangenen Monaten
neu zugespitzt hat in der Schilderung von sexualisierter Gewalt und der Rolle
von Verantwortungsträgern, führt viele in eine innere Zerreißprobe.
Im Bild des Kirchenbaus ausgedrückt: Waren oder sind es nur
einzelne Steine, die locker waren und die Menschen nachhaltig und tief verletzt
haben, anstatt als Teil einer Mauer eine stützende Funktion wahrzunehmen? Oder
sind viele scheinbar tragende Elemente doch längst hohl geworden? Was hier in den Seelen
vieler Menschen zerbricht, ist ein Bild, ist ein Erleben von Kirche, das in
vielen Fällen tragend und motivierend war für das eigene Engagement. Und wie
beim Zusammenbruch eines Teils des Bauwerkes legt sich der Staub und Dreck über
alle anderen Gebäudeteile und dringt auch in die letzten Ritzen ein.
Vielleicht beschreibt dieses Bild auch so manches, was in
Ihrer Seele vorgeht. Mich jedenfalls holt dieses Bild in diesen Wochen immer
wieder ein. Und auch wenn es sehr schmerzlich ist, dass so viele Menschen
unserer Kirche – jedenfalls der Institution – den Rücken kehren, hilft mir
dieses Bild zu verstehen, warum sie dies tun. Da ist etwas nachhaltig
zerbrochen in den Seelen vieler Menschen.
Einige Momentaufnahmen und Bilder der kleinen Michaelskirche
geben mir in diesen Tagen Hoffnung:
(1) Jeden Tag kann man beobachten, wie diese kleine Kirche
für Menschen ein Ruhe und Zufluchtsort ist. Bei all dem, was derzeit die
Schlagzeilen über unsere Kirche bestimmt, ist auch das in unseren Tagen eine
wesentliche Realität. Unzählige Menschen schöpfen im Gebet, im seelsorglichen
Gespräch, in Initiativen aus den Bereichen Bildung und Caritas entscheidende
Kraft für ihren Alltag. Allen, die sich hier in Gebet und Tat engagieren,
dürfen wir von Herzen dankbar sein.
(2) Nach den Zerstörungen haben die Mönche des Klosters
Fulda zwar immer wieder die alten Pläne herausgeholt und die Kirche wieder
aufgebaut. Aber sie haben dabei auch in großer Freiheit in fast jeder Epoche
deutliche Veränderungen vorgenommen. Manches haben sie nicht mehr aufgebaut.
Anderes haben sie entfernt und dafür Neues hinzugefügt. Die Kirche sah danach
an entscheidenden Stellen anders aus. Dennoch war es weiterhin unverwechselbar
eben jene Kirche. Wenn wir heute nach Fulda zur Michaelskirche kommen, können
wir im ersten Moment den Eindruck gewinnen: